"Wirklichkeit bilden" von Dr. Johannes Wagemann
Wirklichkeit Bilden von Johannes Wagemann
Atelier – Labor – Altarraum
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
Als
ich zum ersten Mal ein Bild von Sebastian Walter Lilienfein
betrachtete, erregte es nicht sofort meine ungeteilte Sympathie,
wenngleich ich seine starke Wirkung empfand, als wollte es mir etwas
Bedeutsames mitteilen. Da es nicht unmittelbar auf der Hand lag, was
das hätte sein können, blieb mir nichts anderes übrig als das Bild zu
befragen. Nach und nach, erst zögerlich, dann deutlicher, entstanden
Antworten zu meinen Fragen. Die Blicke und Begriffe fügten sich langsam
zum Bild zusammen – und ich sah das Bild mit anderen Augen...
wirklicher wie mir schien. Fragt man nach dem stilistischen
Standpunkt des Künstlers, so verhallen Worte wie "Realismus" im Raum,
ohne dass sie tatsächlich Klarheit brächten. Betreten wir lieber sein
Atelier, um zu sehen, wie er arbeitet: "Meine Methode ist empirisch."
hört man ihn etwas provokativ aussprechen. Seine Motive findet der
Maler nicht einfach vor, er arrangiert sie wie wissenschaftliche
Experimentalaufbauten, die es auf das Feinste abzustimmen gilt, damit
der Versuch gelingen kann. Und dieser Versuch besteht sowohl im ersten
Schritt des Aufbauens als auch im zweiten des Malens zunächst darin,
richtig zu sehen. Also nicht irgendetwas und auch nicht nur das, was an
Gegenständlichem einbezogen wird, sondern zu sehen, ob und wie inneres
und äußeres Bilden in eine Korrespondenz zu treten vermögen. Was
äußerlich gesehen auf den Bildern geboten wird, ist eine Darstellung
des eigentlich Unnützen und Zwecklosen, ausgewiesen durch weggeworfene,
vergessene Dinge in desolatem, Vergänglichkeit atmendem Ambiente.
Realistisch gesehen könnte man dabei stehen bleiben, die malerische
Perfektion lobend hervorheben und weitreichende kunstgeschichtliche
oder auch biografische Bezüge herstellen. Doch überginge man damit die
subtilen und letztlich entscheidenden gestalterischen Grundzüge dieser
Bilder. Denn das, was sich in ihnen zunächst nur als spannungsgeladene
Stimmung und geheimnisvolle Bewegung mitteilt, beruht bei genauerem
Hinsehen auf einem vom einzelnen Pinselstrich bis zur Gesamtschau
reichenden ideellen Recycling der aus dem Kontext gefallenen
Gegenstände. Im doppelten Durchgang des räumlichen Komponierens und
malerischen Erscheinenlassens wird diesen zwar nicht ihr dinglicher
Sinn und angestammter Zweck unumwunden wiederverliehen, doch lässt sie
der Künstler gemeinsam in einen gesteigerten, vom ihm hervorgebrachten
Zusammenhang treten. Gleichweit entfernt von der Lust am Exaltierten
und gepflegter Belanglosigkeit demonstriert sich hierdurch eine
Freiheit der Kunst von äußeren Zwecken, welche die Tür zu neuen
Bereichen aufzustoßen vermag.
Der
Beobachtung, dass auf der Stufe realistischer Abbildung nicht mehr als
das bloße Aggregat alten Plunders zu sehen ist, entspricht der Sinn,
den Zusammenhang der Dinge selbst und neu bilden zu müssen, da er nicht
mehr vorgegeben ist. Insoweit sich der Künstler durch dieses Grundmotiv
beim Aufbau und Malen der gegenständlichen Motive leiten lässt, bekommt
auch die Rede vom Realismus einen neuen Sinn. Indem der
Gegenständlichkeit innerhalb künstlerischen Erlebens der rechtmäßige
Rang des Durchgangsstadiums zuerkannt wird, sie weder als symbolisch
festgelegte Vorgabe, noch als dekorativer Selbstzweck missbraucht wird,
öffnet sich der eigentliche Bildevorgang – nicht das Resultat, sondern
der Prozess – dem suchenden Blick. Und dieser Vorgang umfasst nicht nur
das, was der Maler mit Material und Farbe macht, sondern auch den
Anteil, den er (und jeder andere an das Bild Herantretende) erkennend
zu leisten hat. Thema und Herausforderung dieses "prozessualen Realismus"
|
|
|
|
|
|
|
sind somit das Wirklichkeitbilden des menschlichen Bewusstseins.
Das
Vergängliche und Morbide erscheint schön, nicht aus sich heraus,
sondern weil es seiner Sphäre poetisch ein Stück weit enthoben ist.
Anteilnahme und innere Aktivität werden durch die geheime Ordnung der
zusammengewürfelten Dinge, durch Lichtglanz, Farbleuchten und
plastisch-materiale Struktur angeregt. Die Bilder bieten sich dazu an,
sie nicht nur passiv auf sich wirken zu lassen, sondern bewusst
empfindend in sie einzutauchen, selbst experimentierend zu erkunden,
wer oder was hier den Abgrund zwischen Sperrmüll und Weltordnung,
zwischen Ödnis und Menschlichkeit überwinden kann. Damit haben wir das
Kunsterleben der Wissenschaft genähert – weder der zählenden und
messenden Disziplin noch der abstrahierenden Kunstwissenschaft –
vielmehr der sich konkret ihrer eigenen bildnerischen Tätigkeit
zuwendenden Form des Erkennens, die erstmals von Rudolf Steiner erprobt
und dargestellt wurde. Diese im Anschluss an Goethe entwickelte
Erkenntniswissenschaft eignet sich in charakteristischer Weise zur
Kunsterkenntnis, da sie den Grundzug der Immanenz trägt. Fern liegt es
ihr, theoretisch erklären zu wollen, was auf Erfahrung und Erlebnis
beruht. Ihre Methode ist die Selbstbeobachtung des Wirklichkeit
mitschaffenden Erkenntnislebens des Menschen, die bewusste
Anverwandlung menschlicher Tätigkeit an ihren Gegenstand. Indem das
Stillleben diese Art von kontemplativer Reflexion anregt, wird es zum
Wegbereiter eines Wiedererkennens. Im erlebend-erkennenden Betrachten
der Bilder erscheinen an der bis ins Detail ausdifferenzierten
Gegenständlichkeit die Gesetzmäßigkeiten universeller Menschlichkeit.
Der Mensch ist es, der in diesen Bildern – nicht in naturalistischer
oder nur symbolischer Darstellung, sondern strukturell und urphänomenal
– zu seinem Ausdruck gelangt. Und so blickt dem Betrachter durch die
Irritation des äußerlich Unvertrauten hindurch auf dem Grunde des
Bildegeschehens sein eigenes inneres Antlitz entgegen1. Das
subtile musikalische Bewegungserlebnis, das man angesichts dieser
Bilder haben kann, beruht auf der Durchdringung stilllebenhafter und
selbstbildnishafter Gestaltungsströme, auf die Herbert Witzenmann als
Kennzeichen wahrhaft moderner Kunst hingewiesen hat. Der kleine
Rundgang, zu dem mit Bildern und Texten eingeladen werden soll, kann
auch als Versuch einer großen Synthese betrachtet werden. Kunst
begreifen mittels experimentierfreudig erprobbarer Blicklenkungen und
Wissenschaft erleben auf eine menschlich existenzielle Weise – dies
schafft Raum für ein drittes Element. Die Maler und Betrachter
umfassende Laborgemeinschaft richtet sich durch Methodik und Thematik
auf eine Hinneigung zum Tiefsten und eine Andacht ans Höchste. Dies
aber ist die Stimmung, welche die Menschen in früheren Zeiten durch
Religion erzielt haben. Doch wurde in der Vergangenheit die Verbindung
mit der göttlichen Sphäre in expliziter, nach Wort und Bild benennender
Weise zum Ausdruck gebracht – sakrale Kunst war als solche immer
äußerlich identifizierbar. Der heutigen Verfassung der Menschen
entspricht es jedoch nicht mehr Vorgegebenes fraglos zu akzeptieren.
Wer aber die Fährte einer neuen, empirischen Ikonografie aufzunehmen
bereit ist, empfindet vielleicht auch die Demut und gebetsartige
Erhebung, aus deren Ursprung diese Bilder gemalt wurden. 1Vgl.
Herbert Witzenmann, Goethes universalästhetischer Impuls. Die
Vereinigung der platonischen und aristotelischen Geistesströmung.
Gideon Spicker Verlag Dornach 1987 (S. 285 f)
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
Der große Strom
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
Alltägliches,
aus dem Kontext Gefallenes und Vergessenes sucht neuen Zusammenhang.
Eine geheime Versuchsanordnung lässt die Vertreter des Vergänglichen
erwartungsvoll aufleuchten: Welkes Laub, gesammelt in einem blechernen
Waschzuber, ausgestopfte Vögel, eine schwere, verrostete Kette, eine
offen gebliebene Türe ...
"Der große Strom" Öl auf Leinen, 180 x 90 cm, 2006
Licht
strahlt aus zwei Richtungen: Von unten künstliches Licht, das Laub
erhellend, sich im blanken Globus wie eine Antwort auf die leere
Eierschale abbildend (Detail1) –
von oben natürliches Licht, das sich wie Wasser am Boden ergießt und in
den Glasbruchstücken spiegelt ... Beginn eines Gesprächs. Im unteren Teil des Bildes häufen sich die Dinge.
|
|
|
|
|
|
|
Von
diesem planvoll-zufälligen Konglomerat, von der spröden Beheimatung in
Vogelnest und Zinkwanne ausgehend, dem Hin und Her des Vogelblicks und
dem wellenförmigen, im weiteren sich überschneidenden Verlauf der Kette
folgend, spitzt sich der Beobachterblick nach oben hin immer weiter zu.
Er verfolgt die Kette in der geöffneten Tür bis zu ihrem Verschwinden
in einem unbekannten Raum... dort die Lösung des Rätsels erahnend? (Detail2) Andererseits
schreiten wir von unten aus einer fragmentierten Räumlichkeit über zwei
Stufen nach oben in einen von Dingen befreiten, sich weitenden Raum. Im
Wandeln zwischen Unten und Oben durchdringen sich Verengung und
Aufweitung.Auch der Lichtkegel des
durch die Fenster fallenden Tageslichts spitzt sich nach oben hin zu
seinem Ursprung zu. Nach unten hin, wie im Gegenverkehr zu Boot und
Vögeln schieben sich die reflektierenden Glasscherben mit ihren
scharfen Ecken voran bedrohlich auf den Betrachter zu. (Detail3)
Sie bringen in ihrer schroffen Vereinzelung doch Licht – Helligkeit und
motivische Struktur – in das Dunkel. So wie sie zielend nach unten
streben, recken sich die Hälse der leeren Flaschen und Gläser in die
Höhe nach neuer Füllung. So wie jene – auch todbringende Schärfe
verheißend – die Fülle und Beweglichkeit des Lebens stufenweise
ablähmen bieten diese die Möglichkeit zu neuem flüssigem Inhalt.Und
dann ist da die Korrespondenz der Kugeln. Die große, angestrahlte
Weltkugel im Vordergrund, die kleine zur Hälfte verdeckte, blaugläsern
durchstrahlte im Hintergrund. Durchstrahlung des Verhüllten und
spiegelnder Glanz des Offenbaren. Dazwischen eine grüne Glaskugel,
deren Ansicht mittig durchbrochen ist vom Hals der Ente. (siehe Detail3)
Grüne Kontinente und blaues Meer auf das Elementare zweier Kugeln
gebracht, entmischt zum Wesentlichen erhoben, verhüllend entrückt. –
Das Experiment gelingt, indem die Dinge Beobachtung und Würdigung in
ihrer formalen und materialen Eigenheit und Eigentümlichkeit erfahren.
Durch ihre in der Komposition angelegte Gemeinschaft entfalten sie neue
und gesteigerte Lebendigkeit. Sie werden zu Zeugen und Zeugnissen der
Rekomposition einer dekomponierten Welt, der Schaffung von Wirklichkeit
im Menschen, und der Betrachter selbst vermag die Berufung in den
Zeugenstand seines eigenen Sein zu erahnen.
|
|
|
|
|
|
|
|
|
Gefährliche Überquerung
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
Auf
nächtlicher, mondbeschienener See gleitet das Fischerboot dahin, die
Netze zum Fang ausgebreitet. Gefangenes, in Schichten gestrandet,
gesunken, abgelagert, harrt im Zwielicht der Klärung. Die Meereswogen:
dunkle Bodendielen, das helle Tageslicht spiegelnd. Das Fischerboot:
ein Modell, dessen größeres Pendant bereits ausgemustert auf der Seite
liegt. Der Fang: Ungesuchtes und doch Gefundenes im Abwärtstaumel
zielvoller Unordnung – gekipptes Schiff, gestürzte Bilder, geleerte
Gläser und Flaschen. Elementar Entgegengesetztes. Von unten her scheint
die vertikale Dielenstruktur durch, oben dagegen horizontal verlegte
Bodenbretter. Oben kühles, bläuliches Licht – unten warmes, gelbliches
Licht. Die Vereinigung des Getrennten vollzieht sich in Stufen des
Übergangs. Das große, zum Teil unter einer Glasscherbe begrabene Schiff
– das winzige, illuminierte, sich davon lösende Rettungsboot, in seiner
Ausrichtung zielend auf – das Fischerboot: Verlassen des brüchig
gewordenen Kokons – Entfalten der Schwingen und Aufnehmen der Reise zu
den Fanggründen. Das ganze Bild entfaltet sich in einer logischen Stufenfolge durch Hell und Dunkel. Ganz oben: Tief dunkel erscheint der dem unsichtbaren Licht nächste Bereich – Ahnung des Ursprungs (und Signet des Künstlers). (Detail1) Obere Mitte: In tagheller Nacht wird Kurs auf das Ziel genommen (Rückfahrt inbegriffen). (Detail2) Mitte bis untere Mitte:
Im dunkleren Zwielicht Einsprengsel spiegelnden Glases, Wandlung von
heller Spiegelung (des Tageshimmels) zu trüberer Durchsicht (auf am
Boden Liegendes), von ebenen zu gekrümmten Formen (Scherbe, Flasche,
Kelch, Kugel), vom Ensemble zur Vereinzelung. (Detail3) Ganz unten:
Elektrischer Lichtschein zeigt die dem Betrachter nächsten Dinge,
Fragmente, zum Teil durch das Bildformat begrenzt, Abbildliches im
letzten Schritt zur Zufälligkeit von Schutt, Staub und Unrat
herabsinkend. (Detail4) Die
hohlen Fugen im Bodenbelag geraten entblößt in den Blick, finden ihre
Antwort im nach oben hin zunehmend erhellten Mastbaum des
Fischerbootes, flankiert von den beiden blassen Schatten der
Fensterrahmung. Das ganze Bild vibriert und schwingt in der Frage nach
dem Bilden und ist zugleich ein Versuch ihrer Beantwortung
|
|
|
|
|
|
|
Der
erkennende wie auch der künstlerische Bildevorgang als versöhnender
Ausgleich des Gegensatzes von Form und Stoff. Nicht einen schalen,
statischen Kompromiss oder das einseitige Triumphieren einer der beiden
Konstituenten, sondern eine vom Höchsten zum Tiefsten reichende
Struktur, einen ab- und aufsteigenden Individualisierungs- und
Universalisierungsstrom zwischen Urbild und Abbild ergibt dieser
Modellversuch im Labor des Malers – ein Bild des Menschen.
"Gefährliche Überquerung" Öl auf Leinen, 160 x 80 cm, 2006
|
|
|
|
|
|
|
|
|
Im Mai
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
Oben rechts: dunkle Tentakeln und deren Schatten vor einer angestrahlten Wand. (Detail1) Unten rechts: der durch Tageslicht erhellte Leuchter vor dunklen Bodendielen. (Detail2) Dazwischen,
über die linke Bildseite gespannt, bestimmt ein leicht gekrümmter Bogen
die räumliche Dynamik des Bildes. Der Austausch und Ausgleich des
Komplementären birgt einen weiteren Wechsel: Das braunschwarze
abgestorbene Agavenblatt ist im unteren Bereich wiederum von
künstlichem Licht erhellt – in dem von natürlichem Licht erleuchteten
Leuchter starren den Betrachter die leeren schwarzen
Kerzenhalteröffnungen wie tote Augen an. – Dunkles im Hellen, Helles im
Dunklen, getrennt und vereint.
"Im Mai" Öl auf Leinen, 160 x 80, 2004
Mit
in die Rundung der (wie eine größere Entsprechung des Agavenblatts
erscheinenden) Gesamtkomposition einbezogen, selbst aber scharfkantig
und spitzeckig: die Glasscheiben bzw. –bruchstücke. Sie bringen
bläuliche und auch grüne Töne in das Bild, in dem sonst erdige, warme
Farben überwiegen. Sie werfen den Himmel ins Irdische hinein, spiegeln
als selbst tote, mineralische Objekte Licht und Leben (Baum mit
Frühlingsgrün) in das Aggregat aus abgestorbenem Unrat, in eine
verkommene und verlassene Räumlichkeit.
|
|
|
|
|
|
|
Auf
etwa zwei Drittel Höhe des Bildes: Das "Herz", ein roter Eimer, wie von
innen heraus erleuchtet, seine Außenhaut hinter Glas, das teils
verdeckend (wo es reflektiert), teils transparent zur Wirkung kommt.
Aus ihm ragt ein weiteres vertrocknetes Agavenblatt, krümmt sich über
seinen Rand und schließlich auch über das benachbarte Glas. Auf dem
Glas: Reflex und Schatten des Blattes zugleich. Dort wo das Eigene des
Blattes im Dunkel seines gläsernen Schattens zurücktritt, erscheint im
Durchblick die Röte des Eimers, der spiraligen Intentionalität der
Blattverjüngung folgend. Das Gespräch der Dinge als ein wechselseitiges
Sich-zu-Wort-kommen-Lassen … der Betrachter ihr Moderator. (Detail3) Das
"Herz", gerahmt von vier verdorrten Blättern, Zentrum dieses
Blattkreuzes, vollendetes ovales Rund und dadurch wie ein innerer
Abschluss des äußeren Bogens, kann gleichnishaft als Ursprung und Ziel
des Menschlichen gelten. Hier ereignet sich sogar eine geheime
Vereinigung von Herz (der ganzen Bildgestalt) und Haupt (der
bogenförmigen Gestaltbildung). Im austauschenden Wechsel der
kompositorischen, plastischen und farblichen Polaritäten und ihrer
harmonisierenden Durchdringung tritt in geheimer Weise die Gestalt des
Menschen vor das Auge des Betrachters, nicht sich äußerlich
aufdrängend, vielmehr einsehend in nüchterner, funktionaler, aber
gleichermaßen poetisch-verklärter Art. Eine formal sich durchdringende,
farblich ergänzende Dreigliedrigkeit zeigt sich im aufsteigenden Bogen:
Gelb-Blau-Rot, die königlichen Hauptfarben des Idealen im Bettlergewand
nebensächlicher, vergessener Dinge. In der Spannung des Bildbogens
erklingt auch eine kontrapunktische Durchführung des Themas „Füllen und
Hüllen“. Nachttopf und Plastikeimer, reflektierte Flaschen und
Kerzenhalter korrespondieren im übergreifenden Wechsel von Weitung und
Verengung. Sie alle bieten hüllenden Raum und die (teils realisierte)
Möglichkeit der Füllung mit Inhalt (Verwelktem) und Leuchtkraft
(Kerzen). Indem der Betrachter diesen Wechsel, diese Aufforderungsgeste
vollzieht, kann er sich zu eigener Aktivität, zur Überwindung von Leere
und Passivität, zur Negation des Negativen angeregt fühlen. Dies
erlebend mag er sich im Schöpfen und Selbst(er)leuchten üben als
Alternative zum konsumierenden Gefüllt- und Angestrahltwerden. Die
scheinbare Unordnung und Banalität, die Wertlosigkeit der Gegenstände
fordert den Betrachter heraus, die verborgene gesetzmäßige Ordnung –
seine eigene universelle Form im Spiegel individualisierter
Tatsächlichkeit – zu entdecken, im Erkennen neuen Wert aus der
Selbstverlorenheit zu schöpfen.
|
|
|
|
|
|
|
|
|
Herz aus Glas
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
Geteiltes
Bild – Bildnis der Teilung. Teilung als Sonderung, Trennung oder auch
als Proportionierung, In-ein-Verhältnis-Bringen. Zwei Welten ringen im
Vexierbild um Vorherrschaft. Oben die eine: Helle, warme Farben, sanfte
Kontraste, organische Formen laden in eine freundlich-lichte Sphäre ein
... doch welkende, getrocknete Blüten, eine rissige Wand, eine auf der
Kippe stehende Glasflasche und bläulich-gespenstische Schatten deuten
auf die Wirksamkeit eines anderen Untertons hin. (Detail1) Unten
die andere: Düster-kühles, einfarbiges, bis ins Schwarz abgetöntes
Blauviolett, aus der Aufrechten gerückte Sicht ... doch öffnet sich
hier der Bildraum weithin und orientiert den Blick aufwärts in einen
Tür-Fenster-Lichtbereich hinein. (Detail2) Das
dem Betrachter Allernächste – das das Bilden des Bildes Betreffende –
ist am wenigsten sichtbar: Die große Glasscheibe, die in ihrem unteren
Bereich das im Rücken des Malers und Betrachters Liegende spiegelnd
abbildet, im oberen Bereich überwiegend Durchsicht auf das Vorliegende
gestattet. Sie wird nur an ihren Rändern bemerkbar, dort wo sie aufhört
wirksam zu sein. Die Glasscheibe führt den Betrachter zur Umwendung auf
sein unausgesetzt wirksames Innenleben, zur Poesie der Bildgestaltung
und damit an sein eigenes schöpferisches Erkennen heran. So ist es
kein Kampf, der hier zwischen den Welten ausgetragen wird, sondern
Versöhnung zwischen ihnen, wenn man den beiden Blicklenkungen der
Durchsicht und Reflexion zu folgen vermag. Dass dies freilich nicht
gleichzeitig zu bewerkstelligen ist, kann als Einladung zu einem
bewegten Hin- und Herwandeln erlebt werden. Die obere Sphäre des Lichts
und der Farben ist alt und labil geworden, in dieser Verfassung
entspricht sie nicht mehr dem auf sich selbst gestellten Bewusstsein
des heutigen Menschen. Durch ihre Opferbereitschaft weist sie selbst
abwärts – zum Sturz in die Sonderung, den spiegelnden Schein.
Gleichermaßen lädt auch der untere Raum nicht sehr zum Verweilen ein. Albtraumhaft abgeschattet, aber auch nüchtern und geradlinig-kristallin weist er zurück auf den Weg zum
|
|
|
|
|
|
|
Licht – das auch aus der geteilten Dachluke dringt.
"Herz aus Glas" Öl auf Leinen, 2-teilig, 160 x 80, 2006
Dort
erfährt das zunächst in der Vertikalen entfaltete Thema des Bildes noch
einmal komprimiert eine in die Tiefe reichende Variation. Drei
übereinander geschichtete Glasscheiben erzählen im Entleeren und
Neuerfüllen der Dinge mit Bedeutung vom Spiel sich durchdringender
Erkenntnisebenen. (Detail3) Dieser im Rhythmus von Systole und Diastole sich vollziehende Pulsschlag des Bewusstseins ist unser Herz aus Glas.
|
|
|
|
|
|
|
|
|
Auf der Suche nach dem Bild – Zur Selbstfindung des Bildens |
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
Wo
ist das Bild? Natürlich hängt es an irgendeiner Wand oder liegt wie
hier als verkleinerte Reproduktion vor. Doch belehrt uns die
Hirnforschung, dass so zu sprechen naiv sei: Was wissen wir schon über
die Entstehung und Existenz des Bildes? Das auf die Netzhaut unserer
Augen treffende Licht zersplittert in Milliarden Nervenerregungen, die
ins Gehirn geleitet, weiterverarbeitet und auf die sogenannte Sehrinde
projiziert werden. Ohne gesunde Augen und ein intaktes Gehirn kann sich
das Bild für uns nicht ergeben. Aber auch diese Sicht des Sehens der
Dinge lässt die entscheidende Frage nach dem Ort des Bildes bzw. seiner
Wahrnehmung offen, da das im Gehirn entstehende Dekomponat des
Netzhautbildes allen Gestaltzusammenhangs und jeglicher visuellen
Qualität entbehrt. Wir stehen also vor den beiden Möglichkeiten: Das
Bild wird draußen, in der umgebenden Welt gesehen (was unserer
Alltagserfahrung entspricht) oder das Bild wird drinnen, im eigenen
Kopf gesehen (was die Ergebnisse der Hirnforschung nahezulegen
scheinen). Ein Mittelweg bestünde vielleicht darin, dass das womöglich
im Kopf wahrgenommene Bild unbewusst wieder nach draußen, in den
illusionären Kontext einer räumlich-zeitlichen Szenerie
zurückprojiziert würde. Doch es bliebe unklar, auf welchem Weg dies
geschehen sollte und woher die zahllosen Nervenimpulse ihren
einheitlichen Erlebniszusammenhang, ihre Bedeutung erhalten sollten. Dem
bildenden Künstler kann die zunächst vielleicht theoretisch anmutende
Frage nach dem Ort des Bildes und seiner Entstehung zur Grundfrage
seines Schaffens werden. Ihre Beantwortung im Sinne der beiden
skizzierten Möglichkeiten – naiv-realistisch oder antirealistisch –
kann ihn letztlich nicht befriedigen. Seine eigene bildschaffende
Tätigkeit lässt ihn ahnen, dass es eine beiden Standpunkten und vor
allem seinem existenziellen Selbstverständnis wirklich gerecht werdende
Antwort geben möge. Um zu dieser zu gelangen, kann er den Weg des
Selbstbefragens, der Selbstbeobachtung seiner bildnerischen Tätigkeit
einschlagen. So verlagert sich die Ausgangsfrage nach dem vermuteten
Ort des Bildes auf den tatsächlichen Akt des Sehens eines Bildes oder
beliebigen Gegenstandes. Und damit ist auch der Weg zu einer
Ausnahmesituation des Wahrnehmens zu suchen, in welcher sich dieses –
statt auf seine subjektiv oder objektiv erscheinenden Endprodukte – auf
deren phänomenalen Ursprungszustand und die sie hervorbringende
Tätigkeit zu richten vermag. Wendet sich die Aufmerksamkeit gegenüber
unserer im Alltag mit Assoziationen, Emotionen und Absichten beladenden
Sicht der Dinge diesen neu und selbstlos zu, wird sie einer Umkehrung
gewahr. Der Blick des Impressionisten kopfüber und rückwärts durch die
eigenen Beine zur reineren, von den gewohnten Konturen der
Gegenstandswelt losgelösten Farbwahrnehmung mag das Streben nach einer
ursprünglichen Form visueller Erfahrung illustrieren. Gelingt dem
forschenden Künstler diese radikale Art des Beobachtens, so kann ihm
das im naiv-realistischen Gegenwartvermeinen vertraute Ding zum
geheimnisvoll-fremden Gegenstand werden, der in sinnentleerter Blöße
und provozierender Eigentümlichkeit von außen an ihn herantritt. Und
statt einer Unzahl von Nervenimpulsen erlebt er in seinem Innern den
Quellpunkt schöpferischer Ausdruckstätigkeit, die – weit entfernt
davon, fertige Schemen auf einer fingierten Bühne zu inszenieren –
Auftakt sehenden und malenden Welterfassens wie Bildschaffens ist. Zur
Vergewisserung des sich zunächst in Nuancen Ankündigenden mag
vielleicht beitragen, dass das derart angesprochene Innen und Außen
über eine bloß räumliche Metaphorik hinausweist. Denn im fortgesetzten
Beobachten zeigt sich, wie das entfremdete Außen in die beheimatenden
Einflüsse des Innen eingebettet wird und wie das eigene Innen die
scharf einschneidende, konturierende Macht des Außen erfährt. Das, was
in Begriffen körperlicher Relation nicht möglich erscheint – die
prozessuale Durchdringung und Vereinigung von Innen und Außen –
ereignet sich als Bewusstseinsphänomen im bewegten Zwischenbereich von
materialer Unauslotbarkeit und formender Bildhaftigkeit. Das Bild ist
weder "außen" noch "innen", weder in einer jenseitigen Wirklichkeit,
die uns nur in Abbildern gegeben ist, noch nur in subjektiven
Vorstellungen, die wir willkürlich in die Welt werfen. Ein
weiterer Hinweis mag uns dem "Ort" der Bildentstehung näher bringen.
Anfangs besteht das Bild aus grundierter Leinwand, die auf einen
hölzernen Keilrahmen gespannt ist. Das malerische Bearbeiten dieser
Grundlage mit Farbe führt dazu, dass man immer mehr von ihr ab- und
sich in die das rohe Weiß hinter sich lassende Bildgestaltung einsehen
kann. Indem sehend das Bild entsteht, vergeht seine körperliche
Gegenständlichkeit. Wenn die Bildgestaltung darüber hinaus noch
gegenständliche Motive zum Inhalt hat, wird im malerischen Neubilden
dieser Gegenständlichkeit der Bildkörper zur Ungegenständlichkeit
entbildet
|
|
|
|
|
|
|
Diese
ironisch-paradoxe Geste enthüllt den Charakter
realistisch-bildnerischer Prozessualität: Diese bietet keinen Ort zum
Verweilen, lädt vielmehr zur bewussten Wechselbewegung zwischen
materialbedingten und bildgebenden Einflüssen ein. Damit hängt auch
zusammen, wie der Maler die Raumestiefe durch "visuelle Komprimierung"
und "überräumliche Expansion" zu überwinden vermag. Er löst die
selbstgestellte Aufgabe der durch den Wechsel von Reflexionen,
Durchsichten und direkten Ansichten entstehenden Anforderung,
verschiedenen Lichtverhältnissen und Fixationen des Blicks gerecht zu
werden, indem er das im räumlichen Aufbau nicht gleichzeitig Sehbare
(und auch nicht Fotografierbare) in einer einzigen, helligkeitsmäßig
ausgewogenen Sehebene zusammenbringt. Auf diesem Wege ereignet sich die
Reduktion der äußerlich sichtbaren Raumeswelt auf eine Bildebene bei
gleichzeitiger Weitung der inneren Erlebnisebenen. Das formal Ärmere –
weil der räumlichen Tiefen- und Lichtwirkung Entbehrende – wird zum
Inhaltlich Reicheren – weil in der Zusammenschau eine höhere, über die
platte Realität hinausgehende Erfahrung Anregenden. Ein drittes
Element, das unseren suchenden Blick auf die bewegte Spannung zwischen
Entbildung und Bildung lenken kann, ist die Teilung bestimmter Bilder.
Diese lässt den Betrachter das Fragmentarische als unmittelbaren
Nullpunkt allen Erkennens erfahren, orientiert den Blick auf einzelne
begrenzte Bereiche, mikrokosmische Subebenen des Bildes, die in ihrer
Sonderung die Erfahrung aus dem formalen und farblichen
Gesamtzusammenhang herausfallender Eigentümlichkeit vermitteln. Sie
bieten als geradlinige Segmentierungen und Sichtachsen aber auch
Ordnungsoptionen an, die mit der Sphäre des ungeteilten Bildes zum Teil
sinnentsprechend korrespondieren oder sie in schroffer Geste negieren.
Insgesamt ist der Betrachter zur fortwährenden Überwindung des
unterbrochenen Zusammenhangs aufgerufen, was die Bewusstwerdung der
neu- und selbstbildnerischen Aktivität anregen kann. Diese im Grunde
für alle gegenständliche Malerei maßgeblichen Prinzipien der
Bildentstehung scheinen in der Kunst des Sebastian Walter-Lilienfein in
besonderer Weise zum Tragen zu kommen. Denn seine Bilder lenken weder
von der namenlosen Zufälligkeit und dem faktischen Bildungsnotstand des
Materiellen ab, noch negieren sie die Bildungskraft schöpferischer,
über die Natur hinausreichender Ideen. Beides zusammen genommen, lässt
sich künstlerisches wie natürliches Schöpfen folgendermaßen deuten: So
zu bilden, dass auch andere Wesen zu bilden vermögen. Aufruf zum
eigenen Bilden bieten die Bilder in der dargestellten Weise. Die
charakterisierte Spannungsfolge zwischen Dekomposition und
Rekomposition gipfelt schließlich im motivischen Aufbau untereinander
beziehungs- und für sich belangloser Dinge. Und die immer wieder zu
unternehmende Lösung liegt in der realistisch strengen und gleichzeitig
übernatürlichen Neubildung des Betrachters: Wer mit dem Auge nur
richtig hinhört, sieht nicht nur den Verschnitt des Bekannten, vernimmt
vielmehr ungeahnte Bedeutungsklänge und in farblich-motivischer
Rhythmik ertönt eine erhabene Sinnmelodie. Dass dieser Balanceakt
kein Hirngespinst ist, hat bereits Goethe durch die Kultivierung seines
Naturerlebens gezeigt. In den Projekten seiner Naturforschung erlebte
er die Durchdrungenheit der Natur mit schöpferischen Bildekräften. Das
gesehene oder gemalte Bild der Natur war ihm Momentaufnahme des Wirkens
dieser Kräfte. Von dort aus versuchte er durch die Steigerung seiner
eigenen Anschauungsfähigkeit zu den Urkräften und Urbildern der Natur
vorzudringen. Seine Einsicht bestand darin, dass es die gleichen Kräfte
sind, welche der Mensch im Anschauen der Natur und welche die Natur im
Hervorbringen ihrer Wesen betätigt. Allerdings erfahren sie durch ihre
Bewusstseinsbeaufschlagung im Menschen eine echte Neuerung gegenüber
ihrem noch bloß blindem, unerkannten Naturwirken. Dieses Naturwirken
hat sich in der Evolution einer menschlichen Leiblichkeit erschöpft,
die den Menschen durch ihre Nerven-Sinnes-Tätigkeit aus dem
Zusammenhang des Naturwirkens herausreißt. Neues hervorbringende
Schöpferkräfte sind seit diesem Endpunkt der natürlichen Evolution nur
noch im erkennenden und handelnden Wirklichkeitbilden des Menschen zu
finden. Indem der Mensch sie bewusst ergreift, macht er sich zum
Gestalter einer neuen, aus dem Alten umzuschmelzenden Welt. – So
entzünden sich in den Bildern Sebastian Walter-Lilienfeins die
glimmenden Splitter unseres geborstenen Realitätsglaubens zu einer
bislang ungekannten, geheimnisvoll offenbaren Ornamentik des
Menschlichen. Auf den Pfaden solcher Kunst, die von dem Vergangenen in
der Sprache der Zukunft erzählt, können wir auch unseren Weg zur
Wirklichkeit finden – begreifen, dass wir Mitschöpfer des Augenblicks
sind.
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
© Copyright Text: Johannes Wagemann © Copyright Bilder: Sebastian Walter-Lilienfein
|